Der Cocktail
„Robert?“
Der Pianist zuckt zusammen: Inge. Das ist ihre Stimme. Mit dieser Stimme sprach einst alles Glück dieser Welt zu ihm. Und später aller Schmerz. Inges Stimme klingt heute reifer, härter und – unsicher. Sie, die ihre Überlegenheit immer selbstbewusst mit keckem Lachen und herausforderndem Tonfall gerne zur Schau gestellt hat, unsicher?
„Inge?“ Was für eine blöde Frage. Er würde ihre Stimme noch immer sofort wieder erkennen. Und er weiß, dass sie das auch weiß. Er nutzt die letzten Takte des Musikstücks, um seine durcheinander stolpernden Gedanken und Gefühle zu entwirren. Eine kurz angedeutete Verbeugung ins Rund der Hotellobby, dann klappt er den Flügel zu und steht auf. Er lächelt Inge zu: „Komm, wir setzen uns an die Bar…“
Während er ihr zum Bartresen folgt, mustert er sie. Die noch immer attraktive Figur im graublauen Kostüm, der blonde Pferdeschwanz inzwischen ein flotter Bubikopf und der schwungvoll wippende Gang – Inge, noch immer ein Männertraum, inzwischen als taffe Geschäftsfrau.
Am verwaisten Bartresen bestellen sie zwei Cocktails und sehen wortlos dem Barkeeper zu, der seine artistische Mix-Show abzieht. Dazwischen grinst er breit zu Inge hinüber, schließlich gilt ihr das ganze Spektakel. Aber sie blickt abwesend durch ihn hindurch. „Zweimal 'Sunshine on the beach' die Herrschaften!“ Der Barkeeper stellt die Cocktailgläser auf den Tresen und verschwindet mit dem klebrigen Mixbecher in die Küche.
Das Klirren der Eiswürfel im Glas bringt Inge an den Tresen zurück. Sie prostet Robert wortlos zu, nippt kurz an ihrem Cocktail. Er hebt ebenfalls das Glas, nickt ihr nachdenklich zu und betrachtet sie weiter von der Seite, ohne zu trinken. Die Welt steht still, das Gedankenkarussel in seinem Kopf rotiert um einen roten Cocktail-Strohhalm. Das macht ihn sprachlos.
Mit einer schwungvollen Drehung wendet sich Inge Robert zu und beginnt mit schnippischem Lächeln bemüht unverbindlich Konversation zu treiben: „Seit wann gibt der 'Trompeter von Säckingen' den Barpianisten…?“
Der Trompeter von Säckingen… Der lebte in einer anderen Zeit, in einem andern Leben. „Seit Du…, seit wir…, seit damals spiele ich nur noch Klavier. Heute bin ich für einen Freund eingesprungen. Und du? Was treibt Dich zu so verlorener Stunde an so einen verlorenen Ort?“ Sie weicht aus: „Bin geschäftlich in der Stadt und hier mit einem Bekannten verabredet…“ Die Situation ist ihr peinlich. Es ist an sich schon unangenehm, von irgend einem beliebigen Bekannten beim Treffen mit einem professionellen Begleiter angetroffen zu werden. Aber Robert… Es kribbelt auf dem Rücken, sie spürt, wie ihr die Verlegenheit das Blut ins Gesicht hochtreibt und fühlt sich wie das kleine, knallrot verschmierte Mädchen, das Mama mit dem Lippenstift vor dem Spiegel überrascht hat.
Sie weiß, dass Robert ihre Verlegenheit spürt. Hastig versucht sie, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken: „Ist schon über zehn Jahre her, das mit uns… Was ist eigentlich aus der Dunkelhaarigen geworden?“ „Aus Miriam? Meine Frau. Wir hatten im Mai unseren achten Hochzeitstag. Und ihr, Du und Martin – seid ihr noch zusammen?“ „Nein, wir haben uns nach vier Jahren getrennt, unschöne Scheidung. Zum Glück keine Kinder. Seither nichts Festes mehr…“
Robert mustert Inge weiter von der Seite, beide schweigen. Ihr Blick verliert sich hinter der verspiegelten Flaschenparade an der Wand hinter dem Bartresen. Es ist ihr immer noch peinlich, Robert ins Gesicht zuschauen. Leise spricht sie, mehr zu den Flaschen als zu Robert: „Ich habe mich manchmal gefragt, wie das mit uns gelaufen wäre…“ Und dann, nach einer Weile, tonlos in sein Schweigen hinein: „Wahrscheinlich habe ich mich damals falsch entschieden…“
Robert rührt grüblerisch in seinem Cocktail: „Ist das heute noch wichtig?“ Sie fixiert weiter die bunten Flaschenetiketten. Aprupt wendet sie sich Robert zu: „Du liebst mich noch immer – stimmt's?“ Aber es klingt kein Triumph in ihrer Stimme, nur schmerzliche Wehmut.
Robert sieht ihr ernst in die Augen: „Ich hatte Dir damals versprochen, dass ich Dich immer lieben werde. Das gilt auch heute noch. Aber das gilt nur für das, was Du damals so leichtfertig aufgegeben hast: Uns beide, unser gemeinsames Leben! Seit Du Schluss gemacht hast, existiert dieses gemeinsame Leben nur noch als Irrealität. Inzwischen sind drei Leben daraus geworden: Dein Leben und mein Leben als Realitäten, unser gemeinsames Leben als Utopie. Meine Liebe für Dich existiert also noch, aber nur im Nirgendwo.“
Nach einer längeren Pause fährt Robert leise fort: „Wir hatten uns damals wahrscheinlich zu wenige Gedanken darüber gemacht, was Liebe wirklich ist. Inzwischen bin ich fest davon überzeugt, dass jeder Mensch im Leben genau einen Menschen trifft, der das für ihn ist, was man landläufig die 'Liebe des Lebens' nenne. Ob mit Zwei, mit Zwanzig oder mit Sechzig: Einmal getroffen, bleibt sie das, bis man stirbt. Dumm nur, wenn man sich trifft und es dann nicht passt.“
„Wie bei uns“, murmelt Inge.
„Aber zum Glück“, so Robert weiter, „ist diese 'Liebe des Lebens' nicht zwangsläufig auch das 'Glück des Lebens'. Heute weiß ich: Die 'Liebe deines Lebens' bestimmt das Schicksal, das 'Glück deines Lebens' bestimmst du jedoch selbst. Ob du mit einem Menschen glücklich wirst, hängt von nur zwei Dingen ab: Pflicht und Vertrauen. Zugegeben, das klingt weniger nach romantischer Träumerei, sondern mehr nach handfestem Tun. Aber nur wenn beide die gegenseitige Verpflichtung auf sich nehmen, für den anderen lebenslange Verantwortung zu übernehmen, wächst jenes bedingungslose gegenseitige Vertrauen, das im Laufe der Zeit zur tiefen, reifen Liebe wird. Heute steht für mich fest: Ja, Du bist die 'Liebe meines Lebens'. Und ich war damals, ohne es zu wissen bereit, mich auf diese Liebe mit Dir einzulassen. Du hingegen warst bloß verliebt. Aber das war damals. Heute ist das nur noch Teil unserer gemeinsamen Utopie. Die Realität ist: Ich liebe Miriam und bin glücklich.“
Robert verstummt, schlürft an seinem Cocktail, sein Blick wandert ebenfalls zu den Flaschen. Nach einer längeren Pause fährt er fort: „Es ist sonderbar: Wenn du an einem bestimmten Punkt in deinem Leben eine Entscheidung triffst, wird dein ganzes Leben ein anderes. Statt eines Inge-Lebens ist meines zu einem Miriam-Leben geworden. Ich hatte Glück, Miriam und ich haben es geschafft, uns zu lieben und glücklich zu sein.“
Inge hat schweigend zugehört. „'Liebe meines Lebens' - das wird's wohl gewesen sein. Kannst Du Dir ausmalen, wie bitter es für mich ist, dass ich erst Jahre später erkannt habe, dass Du diese 'Liebe meines Lebens' bist? Und weil ich nicht begriffen hatte, dass Glück auch ohne diese 'Liebe des Lebens' funktionieren kann, ist mein Leben leer geblieben. Anfangs haben mich beruflicher Aufstieg, Geld und oberflächliche Liebschaften darüber hinweggetäuscht. Doch mit jedem Tag, den ich älter werde, wächst meine Verzweiflung: Die Einsicht tut weh, dass mein ganzes Leben im Grunde eine Kette vertaner Gelegenheiten ist. Die ganzen Jahre, die mein glückliches Leben hätte sein können, sind heute unwiederbringlich weg, Tag für Tag falsch verlebt…“
Robert trinkt aus. Im Gehen wendet er sich Inge nochmals zu: „Vielleicht liegt unser Barkeeper mit seiner Cocktailweisheit gar nicht so falsch: 'Manche sind süffig, aber am nächsten Tag wachst du verkatert auf. Andere schmecken bitter, tun dir aber gut…' Leb wohl, Inge.“
(aus: "Der Cocktail")
Liebesdrama in vier Zeilen
Von Donauwörth bis Ankara
fuhr froh ich mit Veronika.
Doch heimwärts musst' ich wandern
sie fand dort einen andern.
(aus: Der Walhai auf dem Kirchendach)
(Ehe-) Männliche Erkenntnis
Dass Ehen scheitern, hat zuweilen einen recht banalen Grund: Ein Mann heiratet eine Frau und stellt nach einigen Jahren mit Befremden fest, dass er mit einer Mutter verheiratet ist.
(aus: Zwergengross)
Wassersprache
Wenn Wasser würde Worte wagen:
Was würde Wasser uns da sagen?
Würd's uns aus Urzeiten berichten,
würd's uns geheime Wunder sichten,
würde es Wortkaskaden dichten,
würd's unser Denken ganz vernichten?
Wenn Wasser würde Worte wagen:
Warum sollt's grade uns was sagen?
(aus: Der Walhai auf dem Kirchendach)
Brief von Kimura
Dieser Tage erhielt ich überraschend einen Brief - überraschend deshalb, weil mir außer einer norddeutschen Klassenlotterie und einem südfranzösischen Weinhändler schon seit Jahren niemand mehr einen Brief geschrieben hat.
Und meine Überraschung wuchs noch, als ich den Brief öffnete: Die Herren Masaaki Kimura und Hajime Yamaji wollten mich freundlichst daran erinnert haben, dass es Frühling wird.
Nein, wie die für deutsche Zungen etwas ungewohnten Namen bereits erahnen lassen, zählten die Herren Kimura und Yamaji bislang nicht zu meinem engeren Bekanntenkreis. Um so größer meine Freude, daß gerade die beiden mich mit einem freundschaftlichen Hinweis bedenken wollten: Sie wüssten da ein Vehikel mit abgasarmem OHV-Motor, ABS/Copolymer und beachtlichen 38,5 Kilogramm Trockengewicht, das auf den wohlklingenden Namen "ylm 346" getauft sei. Erst der stolze Besitz dieses Ausbundes modernster Technik würde mein Leben in glücklichere Bahnen lenken.
Und, um mein Glück zu vervollkommnen, teilten sie mir mit, dass ich dieses Wunderding gar wahlweise zwei- oder dreigangbetrieben vorfinden würde. In dem Schreiben wurden noch weitere technische Details genannt, die ich - zu meiner Schande muss ich es gestehen - genausowenig verstand. Aber weil auf einem beiliegenden Prospekt ein Rasenmäher abgebildet war, ahnte ich, dass diese bahnbrechenden technischen Neuerungen möglicherweise lediglich der gemeinen Rasenpflege dienen könnten.
Und genau da liegt nun mein Problem: Wie kann ich den liebenswürdigen Herrn Kimura und Yamaji schonend beibringen, dass ich, im 24. Stockwerk eines modernen Hochhauses wohnend, bedauerlicherweise kein Fleckchen Grünland mein eigen nenne, ohne sie in den kollektiven Harakiri zu treiben?
(aus: Frauenhimmel & Männerhölle)
Der graue Mantel
Heute habe ich sie wieder gesehen. In ihrem grauen Mantel steht Frau Hausmann zwischen Komposthaufen und Zwiebelbeet und gießt mit einer alten Zinkkanne ihre fünf
Tomatenstöcke.
Es ist nicht viel, was ich von meinem Balkon aus sehen kann: viereinhalb Gärten und sieben Hausdächer. Über diese Dächer hinweg noch fünf Hochhäuser. Aber die sind
so weit entfernt, dass deren Bewohner zu bunten Punkte schrumpfen. Gärten und Dächer hingegen kenne ich gut. Ich weiß, in wessen Garten über Nacht die Tulpen erblüht sind oder auf welchem Dach
die Elstern Moosinseln losgescharrt haben.
Warum ich das alles weiß? Weil ich schon lange vor der Corona-Zeit meine Tage großteils auf unserem kleinen Balkon verbringe. Ich sitze dann unter dem gelben
Sonnenschirm an meinem klapprigen Campingtisch und schreibe. Natürlich schreibe ich nur das, was mir einfällt. Das ist im Grunde nicht viel. Wenn ich als Autor an einer neuen Geschichte arbeite,
geht das Schreiben schubweise vonstatten – jeder neue Gedanke bringt die Geschichte ein kleines Stück weiter voran.
Allerdings bin ich mehr mit philosophischen Fragen beschäftigt. Dabei gibt es noch weniger zu schreiben. Manchmal plage ich mich tagelang mit einer simplen
Frage herum, ohne einen einzigen Satz niederzuschreiben. Dann beneide ich die Nachbarn in ihren Gärten: Hacken, Jäten, Gießen und Ernten – in ihrer Arbeit liegt eine solide Verlässlichkeit, eine
Sicherheit, die meinem Denken unerreichbar bleibt.
Aber ich schweife ab: Zeit verliert an Geschwindigkeit, wenn du zu lange alleine auf dem Balkon nachdenkst. Deshalb zurück zu Frau Hausmann, die ich nur aus der
Ferne kenne. Seit über zwanzig Jahren bewohnt die alte Frau ein riesiges Zweifamilienhaus. Alleine. Ihre einzige Tochter hat in eine norddeutsche Großstadt geheiratet. Pflichtbesuche bei der
Mutter erfolgen nur, wenn Italienurlaube anstehen. Dann liegt das Elternhaus auf dem Weg.
Frau Hausmann geht montags einkaufen, ansonsten verlässt Sie das Haus nur, um im Garten zu arbeiten. Das tut sie ohne erkennbares System. Ob Regen oder
Sonnenschein, Vormittag oder Abenddämmerung: Plötzlich taucht der graue Mantel im Garten auf, schneidet Hecken oder pflanzt Salat. Ob Frühjahr, Sommer oder Herbst – Gartenarbeit und Mantel sind
unabdingbar miteinander verknüpft.
Sie werden mich jetzt fragen, was eine alte Frau im grauen Mantel mit dem Corona-Virus verbindet. Sie haben natürlich Recht: Im Grunde nichts! Und doch sollte uns
die anspruchslose Selbstverständlichkeit, mit der diese alte Frau seit Jahren ihr Leben auf kleinstem Raum meistert, Mut machen: Nutzen wir diese Zeit der aufgezwungenen Bewegungseinschränkung
dazu, nach dorthin aufzubrechen, wohin wir im Alltagstrubel kaum gelangen – zu uns Selbst! Blaise Pascal hat erkannt: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in
einem Zimmer zu bleiben vermögen.“ So betrachtet, kann uns Corona Chance sein: Im kleinen Balkonien die ganze Weite unseres Ichs zu entdecken!
(aus: Corona Decameron)
Lebenslange Treue – zwischen Schildkröte und Eintagsfliege.
(aus: Zwergengross)